Im Jahr 2020 habe ich mich intensiv mit der Frage beschäftigt, ob und welche Führungskompetenzen und welche organisationsspezifischen Voraussetzungen für eine Optimierung von Verwaltung zweckdienlich sind. Ich hatte zwischen 2026 und 2018 als stellvertretende Leiterin der Akademie Mont Cenis des Innenministeriums NRW den Fachbereich Führung, und damit zahlreiche Fortbildungsangebote, betreut. Der Dialog mit den Dozent*innen und Nutzer*innen war äußerst lehrreich und inspirierend. Zuvor hatte ich daran mitgearbeitet, die Qualifizierung für den Aufstieg in den höheren Dienst (Laufbahngruppe 2.2) zu konzipieren und ich hatte einen Referenzrahmen für die Führungsfortbildung erarbeitet.
Mein hier vorgestellter Beitrag ist angesichts der Notwendigkeit, nun endlich (im Jahr 2025) damit anzufangen, Verfahren und Entscheidungen zu entbürokratisieren, wichtiger denn je. Denn es geht ja nicht nur um die bisher in der Verwaltung eher vernachlässigte Digitalisierung. Es geht auch um das Etablieren eines geeigneten Mindsets in der Verwaltung. Das wird üblicherweise von den Führungskräften getragen und vorgelebt. Dabei setzt das System Verwaltung den Akteur*innen allzu oft Grenzen, z. B. weil das Denken in Zuständigkeiten, juristische Mindsets und ein Höchstmaß an möglicher Kontrolle fest in der DNA der Verwaltung verankert sind.
Führungskräfte sind nicht nur die Schlüssel für die inhaltliche und formal-operative Ausgestaltung von Vorgaben, Richtlinien und Verfahrensschritten. Sie übernehmen Weisungen von übergeordneten Vorgesetzten, interpretieren deren Vorgaben vor dem Hintergrund der (verwaltungs-)politischen Ausrichtung. Sie geben Arbeitsaufträge auf den Weg, prägen Vorgaben und Verfahren inhaltlich und autorisieren diese schließlich. Führungskräfte entscheiden durch ihr Führungsverhalten auch, ob und wie der Verwaltungsalltag gelebt wird und nehmen Einfluss auf inhaltliche oder strategische Entscheidungen. Nicht selten spielen die Grundüberzeugungen und Empfehlungen der Referent*innen und Dezernent*innen, die sich zuvor eingearbeitet haben, nach dem Durchlauf durch verschiedene Entscheidungsebenen keine Rolle mehr. Dabei besitzen diese in der Regel den höheren Sachverstand.
Ein Verständnis der Letztinstanzlichkeit, die Führungskräfte im Verwaltungsalltag leben, ohne in jedem einzelnen Fall die entscheidende Fachkompetenz haben zu können, verhindert oft die so wichtige Perspektivenvielfalt im Umgang mit Problemen und nachhaltige Lösungen. Das alles macht Verwaltung nicht nur langsamer, sondern auch wirklichkeitsferner, es bleibt beim Closed Shop. Und genau den kann man sich meines Erachtens schon lange nicht mehr leisten.
Auszüge aus dem Beitrag machen die Zielrichtung transparent.
Inhalt
- Megatrends wie die Digitalisierung verändern Führung
- Digitalisierung als Anlass für das neue Nachdenken über Führung
- Sozialisationserfahrungen einer jungen Führungskräftegeneration setzen neue Akzente
- Verwaltung und ihre Konzentration auf Homogenität und Bewährtes
- Führungsansätze – wo kann die Reise hingehen?
- Führung optimieren heißt Sensibilität steigend und perspektivisches Denken stärken
- Die Rolle der Fachhochschulen
- Literatur
Auszüge
Es wird davon ausgegangen, dass Digitalisierung grundsätzlich mit einer noch nicht dagewesenen Komplexitätserhöhung einhergeht. Mit den herkömmlichen, in der Verwaltung zuweilen inkomplexen Handlungs- und Entscheidungsgewohnheiten scheint diese Komplexität nicht mehr zu bewältigen zu sein. Zu wenig vorhersehbar, zu komplex, zu volatil, zu uneindeutig seien hierfür die Ereignisse der Zukunft. Digitalisierungsprozesse ermöglichen nicht nur Transparenz und Informationsfülle, sondern sie lebt gewissermaßen von kollektiven Wissensbeständen und koordinierten, zum Teil sehr stark standardisierten Handlungsabfolgen. Eine Akte, individuell oder abteilungskultürlich geführt, wird als elektronische Akte zum Allgemeinplatz – sie offenbart nicht nur den Bearbeitungsstand, sondern auch Fehler, Bearbeitungsgeschwindigkeiten und die Ergebnisqualität.
Das alles wird auch in Amtsstuben eine neue Qualität der Kooperation freisetzen. Unter psychologischen Gesichtspunkten heißt das: Vertrauen, Transparenz und die Bindung der Mitarbeitenden, zuweilen in räumlicher Distanz, werden zu Schlüsselkomponenten. Kommunikation, die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme (Galinski & Ku, 2004) und die Fähigkeit, sich stetig verändernde Umstände zu bewältigen und zu gestalten, werden in ihrer Rolle als Schlüsselkompetenzen bestätigt. Es ist gut nachvollziehbar und vor allem notwendig, dass man auch in der öffentlichen Verwaltung Gedanken darüber macht, mit welcher Führungskraft solche Transformations- und Anpassungsprozesse am besten zubewältigen sind, Seite 228.
…Umgekehrt wird im aktuellen Diskurs über Führung bemängelt, was noch nie zu Arbeitszufriedenheit und zur Ausbildung eines Commitments geführt hat: ein auf die Stabilisierung hierarchischer Strukturen ausgerichtetes Mind-Set (ein Denkrahmen) mit seriellen Zuständigkeiten. Schon Hackman & Odham (1980) wiesen in ihrem Job-Characteristics-Model aus, dass neben Autonomie die Ganzheitlichkeit und Bedeutsamkeit der Aufgaberelevant für Arbeitszufriedenheit und Motivation ist. Im Verwaltungskontext sind jedoch typische, organisationskulturelle Einflüsse zu finden, die die Erwartungen junger Führungskräfte und Beschäftigter häufig frustrieren, z.B. wenig Spielraum für Initiative und autonomes Handeln, Vorgesetzte, die eher Resultat einer Organisationsstruktur und hierarchisch legalisiert als durch Mitarbeiterakzeptanz legitimiert sind sowie ein Denken in Zuständigkeiten mit einem hohem Maß an Verregelungen, die häufig Bewährtes unkritisch reproduzieren oder auf neue Problemlagen nur verzögert oder unzureichend reagieren, Seite 230.
Dass man bezogen auf Führung an einer Organisationskultur festhält, die in vielen Bereichen noch von einer Jurist *innen-Dominanz geprägt ist, hat damit zu tun, dass man hoheitliche Aufgaben eher mit einer normativen, rechtswissenschaftlichen Ausrichtung verbindet als beispielsweise mit sozial-, natur-, betriebswissenschaftlichen oder psychologischen Profilen. Der Zuschnitt von Personalauswahl und Personalentwicklung musste deshalb – außer in Nuancen – seit vielen Jahren kaum modifiziert werden, Seite 234.
Nicht selten ist die Einstellungspraxis durch Richtlinien und so genannte – auf Halde liegende – Anforderungsprofile im Personalbereich festgeschrieben. Je nach Modernität der Personaldezernate werden gängige Kompetenzbündel durch neuere ergänzt – Veränderungskompetenz, Kooperationskompetenz und Entscheidungskompetenz haben aktuell Konjunktur. Manche Stellenausschreibungen ähneln jedoch zuweilen Vorlagen, die schon Jahre alt sind. Warum ist das so? Bewegungen in den Hierarchiestufen sind weitgehend durch Laufbahnrecht geregelt. Hierarchisch gestufte Karrierepfade lassen kaum Spielraum für Quereinsteiger *innen oder Fachkarrieren, die man z.B. für die Bewältigung zukünftiger, gesellschaftlicher Entwicklungen und zur Gestaltung innovativer Prozesse dringend benötigt. Wird fachliche Expertise jenseits des Stammpersonals benötigt, wie man dies aktuell im Bereich der IT-Fachleute in den Landesverwaltungen beobachten kann, hat diese laufbahnrechtliche Bindung besondere Tücken, Seite 235.
Als Orientierung für eine zukunftsfähige Führung in der öffentlichen Verwaltung bieten sich zwei Ebenen an. Eine setzt an der Organisationskultur, die zweite am Individuum an. Zum einen geht es um die Lockerung des Verständnisses einer „Zentralperspektive“. Die Zentralperspektive in der deutschen Verwaltung lebt von ihrem Hoheitsverständnis und ist von drei Komponenten geprägt: der politischen, der juristischen und der strukturellen, im Sinne einer hierarchischen Struktur. Verwaltungs- und Führungsverhalten wird letztlich durch diese Komponenten der Zentralperspektive maßgeblich beeinflusst. Entscheidend für zahlreiche Prozesse, Entscheidungen und Maßnahmen in der Verwaltung ist, was − politisch gewollt,− was juristisch Bestand und Tradition hat – also wie verbindlich und nachhaltig etwas geregelt wird und− was sich im Kontext der hierarchischen Strukturen entwickeln und verwirklichen lässt.
Zu diesem Aspekt gehören u. a. Entscheidungswege und Verfahren. Fachwissen kann unter solchen Vorzeichen für die Durchsetzung und Ausgestaltung von Prozessen weniger wichtig sein als Dienstwissen und Dienstwegwissen. Das Risiko für eine entsprechende Schwerpunktsetzung ist in der Landesverwaltung sicher größer als in den Kommunal- und Kreisverwaltungen. Dort sorgt eine größere Vielfalt der Akteur*innen für eine größere Heterogenität, mehr Pragmatismus – z. B. durch Bürger*inneninteressen als Regulativ.
Wer erkennt, dass Verwaltung heute nicht mehr der zentrale Regelungsapparat sein kann, weil plurale Rationalitäten gesellschaftliches Zusammenleben und Prozesse sehr vielstärker prägen, darüber hinaus unsicher ist, welche Prozesse in Zukunft handlungsleitend sein werden, kann nur dafür plädieren, Personal und Führung nach ähnlich pluralen Prinzipien auszurichten. Von Führungskräften der Zukunft muss man daher erwarten, dass sie Perspektivenvielfalt nutzen und schätzen und dass sie sicherstellen, dass Multiperspektivität Raum greift, Seite 240.
Die zweite Ebene, die uns näher an ein wünschenswertes Profil von Führung der Zukunft heranbringt, ist die motivationale Ebene. Führungskräfte sind dann gute Führungskräfte, wenn es ihnen gelingt, mit den Potenzialen der Mitarbeitenden klug umzugehen. Dazu gehört das Bewusstsein, dass die Personalentwicklung – also das Erkennen und fördern von Potenzialen – der wesentliche Erfolgsfaktor für Führung darstellt. Hierzu gehört, dass man den Akteur *innen mehr Selbstverantwortlichkeit zugesteht und sie dorthin führt, dass sie ihr eigenes Potenzial schätzen und entwickeln können, Seite 240.
Für eine Führung der Zukunft kommt in der Verwaltung unter diesen Vorzeichen folgendes in Frage: Führungskräfte sollten dahin gebracht werden, dass sie in viererlei Richtung Sensibilität entwickeln: − in Bezug zu Organisations- und gesellschaftlichen Belangen, − in Bezug zu den Potenzialen und Bedürfnisse der Mitarbeiter*innen, − in Bezug zu den Besonderheiten in Veränderungsprozessen und vor allem− in Bezug zum eigenen Potenzial – fachlich, sozial, systemisch und psychologisch. Psychologische Führungsforschung nennt diesen Prozess „Personal Mastery“. Hierzu gehört, dass Führungskräfte wissen, durch welches Verhalten sie als Führungskraft andere mit ins Boot holen und dass sie damit aufhören, mit Führung Privilegien, also eine Sonderstellung mit besondere Rechten, zu verbinden. Wenn Überlegenheit überhaupt eine Rolle spielt, kann es nur darum gehen, herausragend darin zu sein, die Vielzahl von Perspektiven so für alle sichtbar zu machen, dass Elemente besser in einander greifen können, Seite 241.